GOOGLE CITY – Baut Alphabet eine smarte Stadt?

Intelligente Technologien sollen in der Zukunft unser Alltagsleben komfortabler und sicherer machen. Doch die Erprobung in bestehenden Städten ist schwierig. Deshalb baut man am besten gleich eine eigene Stadt.

Sidewalk labs

»Sidewalk Labs ist eine neue Art von Unternehmen, das mit Städten zu­sammenarbeitet, um Produkte zu entwickeln, die deren wichtigste Probleme lösen.« So steht es auf der Internetseite der 2015 gegründeten Tochterfirma von ­Google-Mutter Alphabet. Dabei arbeitet man an nicht weniger als einer vierten technischen Revolution nach Dampfmaschine, Elektrizität und Automobil .­­So lautet zumindest die eigene Aussage. Unter der Leitung von Dan Doctoroff forscht Sidewalk Labs auf den Gebieten Städtebau und Infrastruktur. Digitalisierung soll moderne Lösungsansätze in den großen Problembereichen bieten. Zu den Grundprinzipien der Firma gehört, dass Städte die Menschen sind, die darin leben. Verbessert man die täglichen Er­fahrungen der Menschen, verbessert man die Stadt. Das Team, das an diesem ehr­geizigen Ziel arbeitet, besteht aus Experten in allen Bereichen, vom Transportwesen über die Gesundheit bis zur Sicherheit.

Smart Mobility, Smart Living, Smart Energy etc.: Es gibt kaum einen Bereich, den das Internet der Dinge noch nicht erfasst hat. Der größte gesellschaftliche Nutzen wird erreicht, wenn statt eines Flickenteppichs aus ambitionierten Einzelprojekten ein Gesamt­konzept gebildet wird, das die moderne Technik ­allen ­Menschen zugänglich macht. So entsteht die Smart City.Viele Konzepte und Technologien für deren Verwirklichung sind bereits vorhanden oder in der Entwicklung. Schwieriger wird es, diese in der Realität auf ihre Alltagstauglichkeit zu prüfen. Da ist zum einen das Problem der behördlichen Genehmigungen, die fast bei jedem Umdrehen eines Pflastersteins erforderlich sind. Zum anderen bestehen gewachsene Strukturen in den Städten, welche die notwendigen Tests oft erschweren, verfälschen oder gar unmöglich machen.

Eine Firma, die sich ausschließlich mit diesem Thema befasst, ist Sidewalk Labs. Das Unter­nehmen wurde vor einem Jahr von Alphabet, Googles Konzernmutter, gegründet und kümmert sich um die städtebauliche Umsetzung der unterschiedlichen Digitalisierungsprojekte des Konzerns. Aufgrund der zahlreichen Hürden verfolgt man dort offenbar einen radikalen Ansatz. Firmenchef Dan Doctoroff sagte im Februar in einer Rede an der New Yorker Universität, ­bisherige Anstrengungen, Städte mithilfe neuer Technologien smart zu machen, seien ­daran gescheitert, dassTech-Unternehmer und Städteplaner einander nicht verstanden ­hätten. Hier sehe er den großen Vorteil seiner Zusammenarbeit mit dem Giganten aus dem Silicon Valley. Er gab dabei auch einen Hinweis auf seine künftigen Pläne: „Was würden Sie tun, wenn Sie eine Stadt von Grund auf neu bauen könnten? Wie würden Sie über die technologischen Grundlagen denken?“

Stadt in der Stadt

Nun klingt der komplette Neubau einer Stadt selbst für Alphabet ziemlich ambitioniert. Kleine Brötchen werden deshalb noch lange nicht gebacken. Wie das Wall Street ­Journal unter Berufung auf Menschen, die mit ­Doctoroff gesprochen haben, berichtet, sucht er mit seinem Team nach einem Testgebiet innerhalb einer Stadt. Ideal wäre ein Bezirk, der aus wirtschaftlichen Gründen vom Verfall bedroht ist und den die Stadtverwaltung restrukturieren möchte. Dort soll der Prototyp einer Stadt der Zukunft entstehen. Der ­wichtigste Punkt für Sidewalk dürfte dabei die Unabhängigkeit behördlicher Auf­lagen sein. Nähere Details sind zwar nicht bekannt, doch das Ganze klingt nach einem typischen Alphabet-Projekt: unmöglich, aber vielversprechend. Und wie Konzernchef und ­Google-Mitgründer Larry Page einmal sagte, gibt es „kaum Konkurrenz beim Erforschen technologischer Grenzen, weil niemand so verrückt ist, es zu versuchen«.

Orwell City?

Außerhalb von Europa gibt es wenig Bedenken über Einschnitte in Privatsphäre und Datenschutzrechte, die die smarte Stadt vielleicht mit sich bringt.

Leben in der Stadt der Zukunft

Einer der größten Stressfaktoren in den ­Städten weltweit ist der Straßenverkehr. ­Dieser kann in der intelligenten Stadt durch Digitalisierung enorm entlastet werden. Sensoren überall an und in den Straßen liefern Verkehrsinformationen in Echtzeit und ermöglichen zusammen mit bereits vorhandenen sowie zusätzlichen Details, z. B. aus Maps, die optimale Regelung des Verkehrsflusses. Eine Plattform dafür namens Flow hat Sidewalk kürzlich vorgestellt. Nicht zuletzt helfen die Daten fahrerlosen Transportmitteln bei der Navigation. In der nächsten Stufe wird durch diese der gesamte Verkehr auto­matisiert. Die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten verringert sich erheblich, da hier in den meisten Fällen menschliche Fehler die Hauptrolle spielen. Alphabets selbstfahrende Autos beispielsweise erfassen Objekte in einem Radius der Länge zweier Fußballfelder rundum: Fahrzeuge, Fußgänger, Radfahrer, selbst Vögel und herumflatternde Plastik­tüten. Sie werden nicht müde und sind nie abgelenkt. Und davon abgesehen, dass stressfreies Navigieren von A nach B den Alltag für alle Bürger verbessert, haben auch ältere Menschen, Sehbehinderte und andere ­Ge­handicapte keinerlei Einschränkungen. Staus gibt es dank optimaler Verkehrs­führ­ung nicht mehr, außerdem machen neue Car­sharing-Modelle den privaten Besitz von ­Autos weitgehend überflüssig.

Kein Stress im Straßenverkehr

Sensoren an den Straßen und miteinander kommunizierende Autos ermöglichen eine optimale Verkehrsführung. Staus gehören der Vergangenheit an.

Bürgerfreundliche Digitalbeamte

Eine intelligente Stadt hat selbstverständlich eine intelligente Verwaltung. Überlastete Ämter mit missmutigen Bediensteten gehören der Vergangenheit an. Anträge stellen und Dokumente einreichen kann der Bürger digital erledigen. Natürlich benötigt dafür in der Smart City nicht jeder eine eigene technische Aus­rüs­tung. Dem Bürger stehen tausende frei zugängliche Terminals zur Verfügung, ähnlich denen von Link NYC. Bei den in New York bereits in der Erprobungsphase befindlichen Geräten handelt es sich um Informationssäulen mit integrierten Android-Tablets. Sie bieten neben Internetdiensten freies WLAN für alle und kostenloses Telefonieren. Für die Vertraulichkeit der Gespräche gibt es Kopf­höreranschlüsse. Ein Notrufknopf sorgt jederzeit für schnelle Hilfe. Auch das Wohnen ist in der Smart City durch neue Raumkonzepte erschwinglich und durch intelligente ­Technik angenehm und komfortabel. Zahlreiche ­elektronische Helfer entlasten die Menschen von unbequemen Alltagstätigkeiten. Selbst Einkäufe können rollende Roboter übernehmen, die vielleicht sogar einen eigenen Fahrstreifen haben.

Sidewalk Labs und „Link NYC“

Die Terminals von „Link NYC“ sind eines der wenigen bereits realisierten Projekte von Googles „Sidewalk Labs“. Die Terminal-Säulen haben in New York an zahlreichen Standorten alte Telefonzellen ersetzt und bieten Gratis-WLAN, Zugang zu administrativen Services und Strom für leere Smartphones. Im Endausbau werden 7.500 Säulen über die ganze Stadt verteilt sein. Finanziert wird das Projekt durch prominente Werbe-Displays auf den Säulen selbst.

Wer soll das bezahlen?

Ein Projekt dieser Größenordnung ­kostet etliche Milliarden Dollar und wird ­normaler­-weise über Jahre oder Jahrzehnte durch eine Vielzahl von Investoren be­wältigt. Wie Alphabet die Finanzierung stemmen möchte, ist bislang nicht bekannt.

Nicht nur Licht, auch Schatten

Die moderne Technik in den ­intelligenten Städten kann das Leben angenehmer ­machen. Sie birgt aber auch Gefahren. Für viele Menschen ist ihre Bedienung heute noch nicht einfach genug. Sie fallen ­schlimmstenfalls durch die Maschen. Google arbeitet ­allerdings längst schon an der Ent­wicklung ­künstlicher Intelligenz und will in ­naher Zukunft unsere Bedürfnisse erahnen, bevor wir sie selbst erkennen. Für »Google City« könnten also bald praxistaugliche Konzepte bereitstehen. Dann bedient die Technik den Bürger und nicht der Bürger die Technik. Um die Stadt der Zukunft möglichst effi­zient zu planen, zu verwalten und zu versorgen, ist zudem das Sammeln und ­Verwerten sehr großer Datenmengen notwendig. ­Insbesondere wenn es um die Sicherheit geht, könnte bei den Verantwortlichen die Idee entstehen, diese Daten auch zur Überwachung der Menschen zu nutzen. »Orwell City« ist dann nicht mehr weit. Es ist daher wichtig, darüber nachzudenken, wie die Anonymität des Individuums gewährleistet werden kann. »Sie können eine Stadt von Grund auf neu bauen und die großen Qualitäten vorhandener Städte kopieren oder emulieren – es wird ­immer ein steriler Ort sein.« Dieser Satz stammt von Glen Kuecker, Geschichts­professor an der DePauw-Universität. Er hat die Songdo City in der Nähe von Seoul und ­andere am Reißbrett geplante und aus dem Boden gestampfte Städte studiert. Nun möchte ­Sidewalk seine Smart City nicht komplett neu errichten, sondern in eine vor­handene ­integrieren und hat die Chance, ­solche Effekte zu ver­meiden. Die ­Herausforderung für die Planer ist, bei aller Optimierung und ­Digitalisierung die ­gewachsene Lebenskultur in der »Teststadt« bestmöglich zu erhalten. Hier kann Dan Doctoroff auf breite Erfahrung aus seiner Zeit als stellvertretender ­Bürgermeister von New York zugreifen. ­Zuständig für ökonomische Entwicklung und Neustrukturierung der Stadt hat er mehrere erfolgreiche Großprojekte geleitet, darunter den Wiederaufbau nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

So könnte die Stadt der Zukunft aussehen

Unabhängige Energieversorgung

Die Smart City setzt auf regenerative ­Energien und ist unabhängig von fossilen Brennstoffen. Verteilte Windkraft­anlagen sind außerhalb und Solaranlagen innerhalb der Wohngebiete installiert. Dazu sind je nach Lage weitere Konzepte wie Geothermie und Wasserkraft, zum Beispiel Gezeitenkraftwerke, möglich. So wird genügend Strom und Wärme für die Versorgung der Stadt erzeugt.

Smart Living

Die Menschen wohnen in Smart Homes. Das sind Häuser und Wohnungen mit durchdachten Raumkonzepten und elektronischer Steuerung, die das Leben in ihnen komfortabel macht und einen energiesparenden Betrieb ermöglicht. Die Wohngebiete sind gemeinschafts­freundlich gestaltet, um Anonymisierung zu vermeiden.

Optimale Gesundheitsversorgung

Überall in der Stadt befinden sich ­medizinische Zentren. Durch digitale Pa­tientenakten, Telemedizin und intelligente Notrufsysteme werden kranke Menschen bestmöglich  betreut. Landeflächen für Luftfahrzeuge in dichten Abständen ermöglichen im Notfall jederzeit den schnellen Transport in ein Krankenhaus.

Intelligenter Warentransport

Die Stadt wird ober- und unterirdisch durch selbststeuernde Transportsysteme versorgt. Die Fahrzeuge sind in der Größe bedarfsgerecht angepasst. Riesige Last­wagen, welche den Stadtverkehr belasten, sind nicht notwendig. Optimale Logistik minimiert außerdem Leerfahrten und sorgt für einen umweltfreundlichen Betrieb mit geringer Strapazierung der Straßen.

Smart Mobility

Stau und Stress im Straßenverkehr gehören der Vergangenheit an. Der Verkehrsfluss wird digital auf Grundlage von Echtzeit­informationen geregelt. Selbstfahrende Transportmittel bestimmen das Bild. Im öffentlichen Nahverkehr gibt es keine festen Fahrpläne, Abfahrtszeiten und Fahrzeuggrößen werden automatisch an den Bedarf angepasst. Durchdachte Car­sharing-Systeme mit über die Stadt verteilten Centern machen den Besitz eigener Autos im Individualverkehr überflüssig.

Im Porträt: Dan Doctoroff

Daniel L. Doctoroff ist Vorsitzender und Geschäftsführer von Sidewalk Labs. Zusammen mit einem Team aus Städtebauspezialisten forscht er an der Stadt der Zukunft. Dabei kann er selbst auf wertvolle Erfahrungen aus seinen vorherigen Tätigkeiten zugreifen.

Bis 2014 war Doctoroff Geschäftsführer von Bloomberg L. P., dem führenden ­Informationsdienstleister im ­Finanzbereich. Er lotste das Unter­nehmen durch die Finanzkrise, indem er das Kerngeschäft ausbaute und weitere Geschäftsbereiche erschloss. Trotz der Krise hatte sich der Unternehmens­gewinn nahezu verdoppelt. Zuvor war er als stellvertretender Bürgermeister von New York zuständig für die öko­nomische Entwicklung und Neustrukturierung der Stadt. ­Zusammen mit ­Bürgermeister Michael M. ­Bloomberg ­leitete er den wirtschaftlichen Wiederaufbau New Yorks während der Krise nach den Anschlägen vom 9. November 2001. Seine auf fünf Verwaltungsbezirke bezogene Entwicklungs­strategie umfasste auch das ehrgeizigste Raumneu­planungskonzept in der neueren Geschichte New Yorks. Die Idee zur Gründung von Sidewalk Labs entwickelte der Harvard-Absolvent gemeinsam mit Google-CEO Larry Page. Mit Alphabet-Chef Eric Schmidt war er schon seit Jahren bekannt. Doctoroffs Beitrag zu Sidewalk Labs ist aufgrund von städtebaulicher Expertise und seinen persönlichen Netzwerken wohl ­unschätzbar. Er selbst sieht in seinem neuen Job die Bündelung seiner Fähigkeiten gefordert – zu einer Zeit, da Städte das gut gebrauchen können.