Das neue Flaggschiff-Gerät des Marktführers bricht mit einer Reihe von Samsung-Traditionen: Alu und Glas lösen das gewohnte Plastik ab, Wechsel-Akku und Speicherkarte fallen weg. Das Gesamtpaket überzeugt dennoch auf der ganzen Linie.
Im Vorfeld der S6-Vorstellung am Mobile World Congress hatten die Töpfe der Gerüchteküche mächtig gebrodelt. Von multifunktionalen Covers war da die Rede, die das S6 bei Bedarf zur Wärmebildkamera, zum Blutzuckermessgerät oder zum eBook-Reader mit E-Ink-Display machen sollten. Ein Iris-Scanner sollte es berührungslos entsperren. Und das Gehäuse sollte nun durch und durch aus Metall bestehen. Mit den ersten realistischen Foto- und Spec-Leaks, die zwei Wochen vor der Präsentation die Runde machten, kam es aber anders – und schon recht nahe an das heran, was wir nun wissen: Das Galaxy S6 sieht sowohl innen als auch außen völlig anders aus als seine Vorgänger. Das präsentierte Gerät spaltet Fangemeinde und Fachpresse: Am neuen Design aus Metall und Glas stört sich zwar niemand, doch die Kompromisse, die Samsung dafür eingehen musste – der Wegfall von Wechsel-Akku und Speichererweiterung per microSD – gehen für viele Samsung-Fans zu weit.
Den Ruf, „Plastikbomber“ zu produzieren, schüttelt Samsung Stück für Stück ab. Schon das im Herbst präsentierte Galaxy Note 4 und das als „iPhone 5S-Killer“ konzipierte Galaxy Alpha hatten schon einen Rahmen aus Aluminium, behielten im Gegensatz zum S6 aber den abnehmbaren Rückdeckel bei, der für freien Zugang zu Wechsel-Akku und microSD-Slot sorgte. Beim S6 bedeutet der neue Alu-Rahmen eine besonders große optische und haptische Aufwertung, war das Gehäuse des Vorgängers S5 an dieser Stelle doch von ganz exquisit hässlicher, billig glänzender ChromOptik geprägt. Neben Aluminium – zur Verwendung kommt die besonders harte Legierung vom Typ 6013, was den Rahmen kratzfester und das ganze Gerät stabiler machen soll – steht ein für Samsung zweites neues Gehäuse-Material: Glas.
Die Rückseite ist vom selben kratzfesten Gorilla Glas 4 geschützt wie das Display-Panel an der Vorderseite. Das neue Aluminiumsilikat-Glas bringt neben erhöhter Kratzfestigkeit auch größere Bruchsicherheit. Eine unwillkommene Neuerung sind allerdings die Fingerabdrücke, die die gläserne Rückseite unweigerlich anzieht, der schlechte Eindruck verstärkt sich noch durch die blass gefärbten, metallisch glänzenden Folien, mit denen die gläsernen Partien hinterlegt sind. Ein weiterer Nachteil der neuen Bauweise ist die geringere Dichtheit: War der Vorgänger noch wasser- und staubdicht nach IP67, ist das S6 gegen diese beiden Elemente ungeschützt. Der fummeligen, dichten Port-Abdeckung des S5 werden wenige Nutzer nachweinen, Unfälle am Pool oder in der Badewanne darf man sich nun nicht mehr leisten.
Immerhin ist das Gehäuse aber um einen guten Millimeter flacher, zwei Millimeter schlanker und sieben Gramm leichter geworden. Mit einem Gewicht von 138 Gramm ist das S6 zwar 9 Gramm schwerer als das iPhone 6, aber leichter als die Android-Konkurrenz von Sony (Xperia Z3: 152 g) , LG (G3: 149 g) und HTC (One M9: 157 g). Zum geringeren Gewicht trägt ein geschrumpfter Akku bei, der nun nur noch 2550 mAh fasst – statt 2800 beim S5. Auswirkungen auf die Laufzeit konnten wir in der Testzeit keine feststellen. Ein veritabler Vorteil ist die neue Schnellladefunktion, die den leeren Akku schon nach zehn Minuten genug füllt, um wieder zwei Stunden HD Video abspielen zu können. Das flache Gehäuse wird nur von einem Element überragt: Dem Kamera-Modul auf der Rückseite. Der Linsenaufbau lässt sich einfach nicht auf das Niveau der Rückseite verflachen.
Mehr zur Kamera später, wir wechseln auf die Vorderseite: Samsung bleibt der AMOLED-Technik treu, dreht aber deutlich an der Leistungsschraube. Das Panel löst nun mit QHD (2560×1440 Pixel) auf und bietet auf der (im Vergleich zum Vorgänger unveränderten) Diagonale von 5,1 Zoll eine Pixeldichte von 577 ppi – mehr als der bisherige Spitzenreiter LG G3 (538ppi) und die restliche Android-Konkurrenz, vom iPhone 6 (326 ppi) ganz zu schweigen. Die Darstellung ist dementsprechend gestochen scharf – in Alltagssituationen wird aber wohl kaum ein Anwender den Unterschied zum Galaxy S5 (432 ppi) bewusst wahrnehmen. Lediglich beim Einsatz in VR-Brillen (wie der parallel vorgestellten Gear VR, in die sich das S6 einspannen lässt), profitiert der Anwender von so hohen Pixeldichten. Für jeden Nutzer von Vorteil ist dagegen die deutlich erhöhte Helligkeit des S6 AMOLED-Panels. Bei automatischer Helligkeitsregelung (die zwischenzeitlich höhere Helligkeit erlaubt als bei manueller Einstellung) wurden bis zu 784 Candela / m² gemessen – das ist heller als alle anderen Smartphones am Markt und bei grellem Sonnenlicht von großem Nutzen. Zum Vergleich: Das für sein helles Display weithin gelobte Sony Xperia Z3 kam in Messungen „nur“ auf maximal 630 cd/m².
Die übrigen Qualitäten des Bildschirms sind AMOLED-typisch: Er zeigt kräftige Farben und weist ausgezeichnete Schwarzwerte auf.
Samsungs S-Serie steht spätestens seit dem Galaxy S4 im Ruf, mit guten Kameras ausgestattet zu sein. Das S6 behält die Auflösung von 16 MP bei, die Knipse wurde aber in mehrerer Hinsicht aufgewertet: Samsung hat einen optischen Bildstabilisator spendiert und die maximale Blendenöffnung auf f 1/1.9 erhöht. Eine Tracking-Funktion hält bewegte Objekte kontinuierlich im Fokus, wenn man sie per Fingertipp markiert. Außerdem laufen einige Prozesse der Kamera-App nun permanent im Hintergrund, um diese im Bedarfsfall schneller zu starten. Aufgerufen wird die Kamera nun auch per Doppeltipp auf den Home-Button. Das funktioniert sogar dann, wenn eine Bildschirmsperre eingestellt ist (der Nutzer kommt in diesem Fall nur in die Kamera-App und nicht weiter). Die entstehenden Fotos sind von exzellenter Qualität. Die größere Blende lässt mehr Licht auf den Sensor und durch den optischen Bildstabilisator werden längere Belichtungszeiten möglich, ohne die Bilder zu verwackeln. Beides verhilft zu besseren Bildern bei schlechten Lichtverhältnissen. Auch die Schärfe und Farbabstimmung der Fotos sind ausgezeichnet.
Samsung verzichtet beim Systemchip auf das Spitzenprodukt von Qualcomm – den Snapdragon 810. Gerüchten zufolge sollen Überhitzungsprobleme zu dieser Entscheidung geführt haben. Stattdessen kommt ein 64-bit-fähiger Exynos-Chip aus eigener Produktion zum Einsatz. Die ersten vier Prozessorkerne sind mit 2,1 GHz, die zweiten vier mit 1,5 GHz getaktet, 3 GB RAM stehen zur Verfügung. Ein Kommentar zur Leistung erübrigt sich fast – die Performance ist ohne Makel, was auch die Benchmark-Werte bestätigen.
Der Fingerabdrucksensor entsperrt nun schneller und bequemer
Von den Rechner-Komponenten abgesehen stechen drei neue Ausstattungspunkte hervor: Drahtloses Laden, ein überarbeiteter Fingerabdrucksensor und Samsung Pay. Die Ladefunktion ist zwar nicht völlig neu, musste bisher aber durch einen Tausch des Akku-Deckels nachgerüstet werden. Das S6 hat die Ladespule nun schon ab Werk verbaut und ist sowohl mit Ladegeräten nach dem Qi-Standard kompatibel als auch mit PMA-Ladestationen (derzeit vorwiegend in den USA verbreitet). Ebenfalls nicht gänzlich neu, aber stark verändert ist der Fingerabdrucksensor: Der Nutzer muss zum biometrischen Entsperren nun nicht mehr über den Home-Button streichen. Wie beim iPhone reicht es jetzt, die Fingerspitze kurz aufzulegen. Ein deutlicher Komfortgewinn, denn dies kann auch einhändig mit dem Daumen geschehen.
Für viel Aufsehen sorgte die dritte Ausstattungsneuheit: Samsung Pay, ein innovativer, mobiler Bezahlservice. Wer per App seine Kreditkarte eingetragen hat, soll im Endausbau bei NFC- und klassischen Magnetstreifenterminals berührungslos bezahlen können, die Autorisierung übernimmt der Fingerprintsensor. Das Problem im deutschsprachigen Raum: NFC-Terminals haben bisher nur in Österreich nennenswerte Verbreitung, Magnetstreifen-Geräte sind (anders als in den USA) hingegen schon fast vom Markt verschwunden – die Karten werden seit langem per Chip ausgelesen. Samsung Pay steht und fällt hierzulande also mit der Verbreitung von NFC-Terminals.
Das neue Samsung-Flaggschiff ist nicht für jedermann: Der Wegfall von SD-Karten-Slot und Wechsel-Akku macht Schluss mit zwei Ausstattungsmerkmalen, die bisher als essenziell Samsung-typisch angepriesen wurden und die viele treue Kunden sehr geschätzt haben. Für lange Reisetage und große Musiksammlungen müssen diese jetzt zu Powerbanks greifen und Aufschläge von 100 bzw. 200 Euro für die 64- oder 128 GB-Variante des S6 berappen. Belohnt werden die Käufer aber mit einem viel ansehnlicheren, hochwertig anmutendem Gerät, der glänzende Kunststoff von früheren Samsung-Modellen ist Geschichte. Erfolgreich geneuert hat der Hersteller auch bei der Software – die Menüs sind übersichtlicher, lästige Bloatware wurde auf ein erträgliches Maß reduziert. Mit der exzellenten Kamera, dem verbesserten, schnelleren Fingerabdrucksensor und der leistungsfähigen Hardware sowie den neuen Lade-Funktionen legt das Galaxy S6 der Konkurrenz die Latte sehr hoch.
Leistung, Display und Kamera top
Interessante neue Ausstattungsmerkmale
Kein Wechsel-Akku, keine SD-Erweiterung
Nicht mehr wasser- und staubdicht
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