Intelligente Technologien sollen in der Zukunft unser Alltagsleben komfortabler und sicherer machen. Doch die Erprobung in bestehenden Städten ist schwierig. Deshalb baut man am besten gleich eine eigene Stadt.
Smart Mobility, Smart Living, Smart Energy etc.: Es gibt kaum einen Bereich, den das Internet der Dinge noch nicht erfasst hat. Der größte gesellschaftliche Nutzen wird erreicht, wenn statt eines Flickenteppichs aus ambitionierten Einzelprojekten ein GesamtÂkonzept gebildet wird, das die moderne Technik Âallen ÂMenschen zugänglich macht. So entsteht die Smart City.Viele Konzepte und Technologien für deren Verwirklichung sind bereits vorhanden oder in der Entwicklung. Schwieriger wird es, diese in der Realität auf ihre Alltagstauglichkeit zu prüfen. Da ist zum einen das Problem der behördlichen Genehmigungen, die fast bei jedem Umdrehen eines Pflastersteins erforderlich sind. Zum anderen bestehen gewachsene Strukturen in den Städten, welche die notwendigen Tests oft erschweren, verfälschen oder gar unmöglich machen.
Eine Firma, die sich ausschließlich mit diesem Thema befasst, ist Sidewalk Labs. Das UnterÂnehmen wurde vor einem Jahr von Alphabet, Googles Konzernmutter, gegründet und kümmert sich um die städtebauliche Umsetzung der unterschiedlichen Digitalisierungsprojekte des Konzerns. Aufgrund der zahlreichen Hürden verfolgt man dort offenbar einen radikalen Ansatz. Firmenchef Dan Doctoroff sagte im Februar in einer Rede an der New Yorker Universität, Âbisherige Anstrengungen, Städte mithilfe neuer Technologien smart zu machen, seien Âdaran gescheitert, dassTech-Unternehmer und Städteplaner einander nicht verstanden Âhätten. Hier sehe er den großen Vorteil seiner Zusammenarbeit mit dem Giganten aus dem Silicon Valley. Er gab dabei auch einen Hinweis auf seine künftigen Pläne: „Was würden Sie tun, wenn Sie eine Stadt von Grund auf neu bauen könnten? Wie würden Sie über die technologischen Grundlagen denken?“
Stadt in der Stadt
Nun klingt der komplette Neubau einer Stadt selbst für Alphabet ziemlich ambitioniert. Kleine Brötchen werden deshalb noch lange nicht gebacken. Wie das Wall Street ÂJournal unter Berufung auf Menschen, die mit ÂDoctoroff gesprochen haben, berichtet, sucht er mit seinem Team nach einem Testgebiet innerhalb einer Stadt. Ideal wäre ein Bezirk, der aus wirtschaftlichen Gründen vom Verfall bedroht ist und den die Stadtverwaltung restrukturieren möchte. Dort soll der Prototyp einer Stadt der Zukunft entstehen. Der Âwichtigste Punkt für Sidewalk dürfte dabei die Unabhängigkeit behördlicher AufÂlagen sein. Nähere Details sind zwar nicht bekannt, doch das Ganze klingt nach einem typischen Alphabet-Projekt: unmöglich, aber vielversprechend. Und wie Konzernchef und ÂGoogle-Mitgründer Larry Page einmal sagte, gibt es „kaum Konkurrenz beim Erforschen technologischer Grenzen, weil niemand so verrückt ist, es zu versuchen«.
Leben in der Stadt der Zukunft
Einer der größten Stressfaktoren in den ÂStädten weltweit ist der Straßenverkehr. ÂDieser kann in der intelligenten Stadt durch Digitalisierung enorm entlastet werden. Sensoren überall an und in den Straßen liefern Verkehrsinformationen in Echtzeit und ermöglichen zusammen mit bereits vorhandenen sowie zusätzlichen Details, z. B. aus Maps, die optimale Regelung des Verkehrsflusses. Eine Plattform dafür namens Flow hat Sidewalk kürzlich vorgestellt. Nicht zuletzt helfen die Daten fahrerlosen Transportmitteln bei der Navigation. In der nächsten Stufe wird durch diese der gesamte Verkehr autoÂmatisiert. Die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten verringert sich erheblich, da hier in den meisten Fällen menschliche Fehler die Hauptrolle spielen. Alphabets selbstfahrende Autos beispielsweise erfassen Objekte in einem Radius der Länge zweier Fußballfelder rundum: Fahrzeuge, Fußgänger, Radfahrer, selbst Vögel und herumflatternde PlastikÂtüten. Sie werden nicht müde und sind nie abgelenkt. Und davon abgesehen, dass stressfreies Navigieren von A nach B den Alltag für alle Bürger verbessert, haben auch ältere Menschen, Sehbehinderte und andere ÂGeÂhandicapte keinerlei Einschränkungen. Staus gibt es dank optimaler VerkehrsÂführÂung nicht mehr, außerdem machen neue CarÂsharing-Modelle den privaten Besitz von ÂAutos weitgehend überflüssig.
Bürgerfreundliche Digitalbeamte
Eine intelligente Stadt hat selbstverständlich eine intelligente Verwaltung. Ãœberlastete Ämter mit missmutigen Bediensteten gehören der Vergangenheit an. Anträge stellen und Dokumente einreichen kann der Bürger digital erledigen. Natürlich benötigt dafür in der Smart City nicht jeder eine eigene technische AusÂrüsÂtung. Dem Bürger stehen tausende frei zugängliche Terminals zur Verfügung, ähnlich denen von Link NYC. Bei den in New York bereits in der Erprobungsphase befindlichen Geräten handelt es sich um Informationssäulen mit integrierten Android-Tablets. Sie bieten neben Internetdiensten freies WLAN für alle und kostenloses Telefonieren. Für die Vertraulichkeit der Gespräche gibt es KopfÂhöreranschlüsse. Ein Notrufknopf sorgt jederzeit für schnelle Hilfe. Auch das Wohnen ist in der Smart City durch neue Raumkonzepte erschwinglich und durch intelligente ÂTechnik angenehm und komfortabel. Zahlreiche Âelektronische Helfer entlasten die Menschen von unbequemen Alltagstätigkeiten. Selbst Einkäufe können rollende Roboter übernehmen, die vielleicht sogar einen eigenen Fahrstreifen haben.
Wer soll das bezahlen?
Ein Projekt dieser Größenordnung Âkostet etliche Milliarden Dollar und wird ÂnormalerÂ-weise über Jahre oder Jahrzehnte durch eine Vielzahl von Investoren beÂwältigt. Wie Alphabet die Finanzierung stemmen möchte, ist bislang nicht bekannt.
Nicht nur Licht, auch Schatten
Die moderne Technik in den Âintelligenten Städten kann das Leben angenehmer Âmachen. Sie birgt aber auch Gefahren. Für viele Menschen ist ihre Bedienung heute noch nicht einfach genug. Sie fallen Âschlimmstenfalls durch die Maschen. Google arbeitet Âallerdings längst schon an der EntÂwicklung Âkünstlicher Intelligenz und will in Ânaher Zukunft unsere Bedürfnisse erahnen, bevor wir sie selbst erkennen. Für »Google City« könnten also bald praxistaugliche Konzepte bereitstehen. Dann bedient die Technik den Bürger und nicht der Bürger die Technik. Um die Stadt der Zukunft möglichst effiÂzient zu planen, zu verwalten und zu versorgen, ist zudem das Sammeln und ÂVerwerten sehr großer Datenmengen notwendig. ÂInsbesondere wenn es um die Sicherheit geht, könnte bei den Verantwortlichen die Idee entstehen, diese Daten auch zur Ãœberwachung der Menschen zu nutzen. »Orwell City« ist dann nicht mehr weit. Es ist daher wichtig, darüber nachzudenken, wie die Anonymität des Individuums gewährleistet werden kann. »Sie können eine Stadt von Grund auf neu bauen und die großen Qualitäten vorhandener Städte kopieren oder emulieren – es wird Âimmer ein steriler Ort sein.« Dieser Satz stammt von Glen Kuecker, GeschichtsÂprofessor an der DePauw-Universität. Er hat die Songdo City in der Nähe von Seoul und Âandere am Reißbrett geplante und aus dem Boden gestampfte Städte studiert. Nun möchte ÂSidewalk seine Smart City nicht komplett neu errichten, sondern in eine vorÂhandene Âintegrieren und hat die Chance, Âsolche Effekte zu verÂmeiden. Die ÂHerausforderung für die Planer ist, bei aller Optimierung und ÂDigitalisierung die Âgewachsene Lebenskultur in der »Teststadt« bestmöglich zu erhalten. Hier kann Dan Doctoroff auf breite Erfahrung aus seiner Zeit als stellvertretender ÂBürgermeister von New York zugreifen. ÂZuständig für ökonomische Entwicklung und Neustrukturierung der Stadt hat er mehrere erfolgreiche Großprojekte geleitet, darunter den Wiederaufbau nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
So könnte die Stadt der Zukunft aussehen
Unabhängige Energieversorgung
Die Smart City setzt auf regenerative ÂEnergien und ist unabhängig von fossilen Brennstoffen. Verteilte WindkraftÂanlagen sind außerhalb und Solaranlagen innerhalb der Wohngebiete installiert. Dazu sind je nach Lage weitere Konzepte wie Geothermie und Wasserkraft, zum Beispiel Gezeitenkraftwerke, möglich. So wird genügend Strom und Wärme für die Versorgung der Stadt erzeugt.
Smart Living
Die Menschen wohnen in Smart Homes. Das sind Häuser und Wohnungen mit durchdachten Raumkonzepten und elektronischer Steuerung, die das Leben in ihnen komfortabel macht und einen energiesparenden Betrieb ermöglicht. Die Wohngebiete sind gemeinschaftsÂfreundlich gestaltet, um Anonymisierung zu vermeiden.
Optimale Gesundheitsversorgung
Ãœberall in der Stadt befinden sich Âmedizinische Zentren. Durch digitale PaÂtientenakten, Telemedizin und intelligente Notrufsysteme werden kranke Menschen bestmöglich betreut. Landeflächen für Luftfahrzeuge in dichten Abständen ermöglichen im Notfall jederzeit den schnellen Transport in ein Krankenhaus.
Intelligenter Warentransport
Die Stadt wird ober- und unterirdisch durch selbststeuernde Transportsysteme versorgt. Die Fahrzeuge sind in der Größe bedarfsgerecht angepasst. Riesige LastÂwagen, welche den Stadtverkehr belasten, sind nicht notwendig. Optimale Logistik minimiert außerdem Leerfahrten und sorgt für einen umweltfreundlichen Betrieb mit geringer Strapazierung der Straßen.
Smart Mobility
Stau und Stress im Straßenverkehr gehören der Vergangenheit an. Der Verkehrsfluss wird digital auf Grundlage von EchtzeitÂinformationen geregelt. Selbstfahrende Transportmittel bestimmen das Bild. Im öffentlichen Nahverkehr gibt es keine festen Fahrpläne, Abfahrtszeiten und Fahrzeuggrößen werden automatisch an den Bedarf angepasst. Durchdachte CarÂsharing-Systeme mit über die Stadt verteilten Centern machen den Besitz eigener Autos im Individualverkehr überflüssig.
Im Porträt: Dan Doctoroff
Daniel L. Doctoroff ist Vorsitzender und Geschäftsführer von Sidewalk Labs. Zusammen mit einem Team aus Städtebauspezialisten forscht er an der Stadt der Zukunft. Dabei kann er selbst auf wertvolle Erfahrungen aus seinen vorherigen Tätigkeiten zugreifen.
Bis 2014 war Doctoroff Geschäftsführer von Bloomberg L. P., dem führenden ÂInformationsdienstleister im ÂFinanzbereich. Er lotste das UnterÂnehmen durch die Finanzkrise, indem er das Kerngeschäft ausbaute und weitere Geschäftsbereiche erschloss. Trotz der Krise hatte sich der UnternehmensÂgewinn nahezu verdoppelt. Zuvor war er als stellvertretender Bürgermeister von New York zuständig für die ökoÂnomische Entwicklung und Neustrukturierung der Stadt. ÂZusammen mit ÂBürgermeister Michael M. ÂBloomberg Âleitete er den wirtschaftlichen Wiederaufbau New Yorks während der Krise nach den Anschlägen vom 9. November 2001. Seine auf fünf Verwaltungsbezirke bezogene EntwicklungsÂstrategie umfasste auch das ehrgeizigste RaumneuÂplanungskonzept in der neueren Geschichte New Yorks. Die Idee zur Gründung von Sidewalk Labs entwickelte der Harvard-Absolvent gemeinsam mit Google-CEO Larry Page. Mit Alphabet-Chef Eric Schmidt war er schon seit Jahren bekannt. Doctoroffs Beitrag zu Sidewalk Labs ist aufgrund von städtebaulicher Expertise und seinen persönlichen Netzwerken wohl Âunschätzbar. Er selbst sieht in seinem neuen Job die Bündelung seiner Fähigkeiten gefordert – zu einer Zeit, da Städte das gut gebrauchen können.