LG, der koreanische Gigant der Unterhaltungs-elektronik, erlebte 2016 mit seinem Flaggschiff der G-Klasse kein gutes Jahr. Damit 2017 keine Wiederholung droht, wurde einmal alles komplett umgeworfen. Mit Erfolg?
Was war da los im letzten Jahr in Barcelona als LG auf dem Mobile World Congress das modulare G5 vorstellte… „Mut zur Innovation“, urteilten die einen wohlwollend, „Eigentor“, flüsterten die anderen pessimistisch. Die Flüsterer sollten Recht behalten: Das Vorjahres-Flaggschiff aus Korea wurde ein Ladenhüter. Ganz sicher deshalb wurde nun zurückgerudert und LG warf seine traditionelle Andersartigkeit (das G3 verzichtete auf einen Fingerprintsensor, das G4 war mit Echtlederrücken erhältlich und das G5 eben zerlegbar) kurzerhand über Bord. Aber ist das schlecht?
Ein klares Trendphone
Der Unterhaltungsriese scheint für sein aktuelles Toptelefon gründlich recherchiert zu haben, um sicher nicht an den Geschmäckern vorbei zu entwickeln. Deshalb hat das G6 einen deutlich größeren Bildschirm als sein Vorgänger. 5,7 Zoll gegenüber 5,3 sind ein spürbarer Zugewinn. Dennoch wuchs das Gehäuse nur zwei Millimeter in der Länge und praktisch nicht in der Breite. Grund Nummer 1 dafür ist das gestreckte Display-Format von 18:9 (2:1) statt 16:9. Hier sind die „Mehrzoll“ versteckt. Nutzen kann man sie zur Videodarstellung aber nicht. Rechts und links ergeben sich naturgemäß im Querformat zwei dunkle Balken, da moderne Videos eben in 16:9 aufgenommen werden. Grund Nummer 2 für die zarte Gehäusezunahme: das Schrumpfen der Randbereiche. Die nehmen nun nur noch 22% der Vorderseite ein und nicht mehr 30% wie beim G5. Auffällig außerdem: Die Ecken des Bildschirms sind nun abgerundet – aber wir wissen nicht, warum. Ein weiterer Trend wurde ebenfalls aufgenommen. Das G6 ist nun wasserdicht wie das Samsung S8, das Sony Xperia XZ oder das iPhone 7.
Planschen mit Handy ist damit nun auch mit dem neuesten LG kein Problem mehr.
Die Trendliste ist aber damit noch nicht zu Ende: Ganz klar im Fahrwasser von Samsung oder HTC ist ein Metallrahmen in Kombination mit einem Rücken aus Glas. Der fühlt sich zwar eher wie eine Kunststoffabdeckung an, ist aber aus dem gleichen Material wie der Display-Schutz vorne gemacht: Gorilla-Glas. Nachteil dieser Wahl ist die Anfälligkeit für Fettschmierer durch menschliche Finger. Aluminium ist da nicht zu schlagen.
Zwei Augen, zwei Bildwinkel
Last but not least gibt es den Trend hin zur Doppelkamera. Die wird bei LG aber bereits seit dem letzten Jahr anders eingesetzt als bei den meisten Konkurrenten. Sie dient nicht dem Erfassen von Tiefeninformationen, sondern bietet die Wahl zwischen zwei Bildwinkeln. In diesem Punkt ist das Smartphone nämlich einer Kompaktkamera mit Zoom gegenüber stark benachteiligt. Zwar kann man auch mit dem G6 nicht zoomen, hat aber die Wahl zwischen 125° und 71°. Was das ausmacht, sieht man im Vergleich der beiden Bilder oben. Damit lassen sich sowohl Totalen in engen Räumen oder Panoramabilder schießen, als auch ordentliche Porträts.
Beide Fotochips auf der Rückseite lösen nun mit 13 MP auf und machen detailreiche Bilder bei guten Bedingungen. Leider müssen wir einen Punkt abziehen, da bei schlechtem Licht das Ergebnis doch schnell zu krisseln beginnt. Nichtsdestotrotz: Die Flexibilität durch die beiden Linsen ist eine echte Bereicherung. Ãœbrigens verfügt auch die 5-MP-Selfie-Kamera über einen verstellbaren Bildwinkel. Es sind vorne aber keine zwei Knipsen verbaut – die Software macht den Unterschied.
Kraft der zwei Augen
Weitwinkel
Ein größerer Bildwinkel heißt, dass man nahe an einem Objekt (z.B. einem Gebäude) stehen und dennoch viel davon fotografisch einfangen kann. Nachteil aber auch Stilmittel ist die sogenannte Verzeichnung – unser Büro hat hier nämlich plötzlich Bögen.
Enger Winkel
Dass der Kollege aus der Grafik hier plötzlich angeschnitten ist, lässt vermuten, dass die linke Kamera die mit dem kleineren Bildwinkel (71°) ist – denn das G6 wurde nicht bewegt. Dieser Modus eignet sich für Porträts.
Performance, Akku & Software
Ein wenig hechelt LG dem Trend hinterher, wenn man auf die Rechenkomponenten des G6 blickt: Die Grafikeinheit ist exakt die aus dem G5. Der Snapdragon 821-Prozessor wurde bereits letztes Jahr in starke Geräte verbaut und ist eher ein Upgrade des 820 (der gerne mit Hitzeproblemen zu kämpfen hatte) als ein vollkommen neuer Chip. Top-Modelle der Android-Konkurrenz greifen dagegen oft auf den 835er zurück, was sich in der Leistung bemerkbar macht. Es reicht bei uns zwar noch für die fünf Punkte, aber Samsung Galaxy S8 oder Huawei P10 rangieren in den Benchmark-Tests deutlich darüber. Die in Deutschland verfügbaren 32 GB Festspeicher kommen uns auch nicht angemessen vor, wenngleich per SD-Karte 2 TB „nachzustecken“ sind. Die Laufzeiten sortieren das G6 im oberen Mittelfeld ein. Die Ladezeiten dagegen sind besser, wenn auch die Werksangabe von 30 Minuten (0-50%) im eingeschalteten Zustand um acht Minuten verfehlt wurde. Gut gefiel auch die LG-Nutzeroberfläche, die auf Android 7.0 Nougat basiert. Sie ist sehr übersichtlich gehalten – und das ist ein begrüßenswerter Trend.
Fazit
Fortschritt durch Rückschritt? Nein, „Erfolg durch das Unterlassen von Experimenten“ dürfte das Credo des neuen LG-Flaggschiffs lauten. Das G6 ist ein tolles, massenkompatibles Smartphone geworden, das viel kann, aber mit preislich vergleichbaren Geräten aus 2017 bei der Leistung nicht mithalten kann.
Im Detail
Viel Fläche, wenig Platz
Hier wird deutlich, was wenig Rand bewirkt: Ein 5,7 Zoll-Gerät ist trotz seiner beeindruckenden Anzeigefläche noch sehr handlich. Display-Ecken sind passé.
Dünn, aber nicht gerundet
Das G6 (links) ist um einen Hauch dünner als das S8 von Samsung. Das fühlt sich aber dank abfallender Ränder viel filigraner an.
Abgeflacht
Beim G5 wölbte sich die Kamerainsel noch deutlich aus dem Gehäuse und auch das dürfte einst Kunden abgeschreckt haben. Beim G6 ist alles plan verbaut.
Positiv:Â Verarbeitung und Ausstattung sind top, die Doppelkamera ist im Fotoalltag dank zweier Bildwinkel auch ein echter Pluspunkt.
Negativ: Im Vergleich mit S8 und P10 hinkt das G6 leistungsmäßig hinterher. Der hohe Preis macht das nicht besser.